Der Architekt Bruno Taut errichtete 1914 bei der Werkbund-Ausstellung in Köln einen Pavillon, der die Möglichkeiten des Bauens mit Glas auslotete. „Das bunte Glas zerstört den Hass“ stand über dem Eingang. Während des bald darauffolgenden Krieges flüchtete sich Taut in Visionen einer gläsernen Baukunst, die ganze Länder überdecken und schließlich die Menschheit im Frieden vereinen sollte. Am 1. November 1919 vereinigte er eine kleine Gruppe radikaler Architekten und Künstler zum Geheimbund „Gläserne Kette“. Was war dessen Grundidee?
Grafe: Wie alle utopischen Ideen hat auch die „Gläserne Kette“ einen historischen Hintergrund. Das Experimentieren mit Glas als Baustoff beginnt spätestens im 18. Jahrhundert. Aber ganz entscheidend ist das Jahr 1851 mit der ersten großen Weltausstellung in London. Sie stellt eine Zäsur in der Wahrnehmung der Welt dar. Joseph Paxtons „Crystal Palace“ war der erste wirklich große Glaspalast überhaupt – ein Gebäude, das in nur einigen Monaten im Londoner Hyde Park errichtet wurde. Die neue Technologie des Konstruierens in Glas und Eisen schuf gänzlich neue Möglichkeiten im Ingenieurbau.
Bruno Tauts Visionen sind ohne diesen – recht pragmatischen – Vorgänger kaum denkbar. Der Kristallpalast war ein Gebäude unermesslichen Ausmaßes, mehrere hundert Meter lang. In ihm wurde die ganze Welt ausgestellt – es gab vielfache Abbildungen von Kunstwerken aus allen Kontinenten. Dieses Bild der globalen Verfügbarkeit ist eines der ganz entscheidenden kulturellen Bilder des 19. Jahrhunderts. In diesem Moment scheint die ganze Welt unter dem Einfluss eines westlichen Fortschrittdenkens und der Dominanz Europas erschließbar. Der Glaspalast hat also utopische Konnotationen, wenn auch unter dem Vorzeichen der Hegemonie der Kolonialmächte. Alles wird zusammengebracht und die Gegensätze und Konflikte, die Teil dieser weltumspannenden Ordnung sind, verschwinden. Wenn also Taut 1919 die Idee dieses gläsernen Bauwerks, in dem die Welt vereint ist, wieder aufgreift, dann kommt dies nicht von ungefähr.
In den stürmischen Monaten der Revolution von 1918/19 entstand mit der „Gläsernen Kette“ eine Brieffreundschaft, die Architekten und Künstler mit ähnlichen Vorstellungen vereinte. Sie schickten sich wechselseitig Skizzen ihrer fantastischen Baugedanken. Wie kam dieser elitäre Geheimbund „Gläserne Kette“ zustande?
Grafe: Wir müssen davon ausgehen, dass die Beziehungen unter den Mitgliedern schon vorher existierten. Neben seinem Bruder Max wurden auch eine Reihe von Personen im weiteren Umfeld Tauts Teil der „Gläsernen Kette“, unter anderen die jungen Architekten Wassili Luckhardt oder Hans Scharoun. Dies sind biografische Verbindungen, die aus einer gemeinsamen Erfahrung der Architekturausbildung, also aus dem Arbeiten in bestimmten Büros entstehen konnten.
Man darf nicht vergessen, dass der erste Weltkrieg für die Architektur – als Disziplin, die sich im Kern mit der räumlichen Ordnung der Welt befasst – vielleicht noch mehr als für andere Disziplinen eine unglaubliche Zäsur darstellt. In der Periode von der Jahrhundertwende bis 1914 sehen wir in der Architektur eine evolutionäre Reformbewegung. Das aufstrebende Deutschland sah sich, nicht zu Unrecht, als Pioniernation in den Bereichen der Gestaltung, dem Städtebau und der Architektur. Der Krieg führt zu einer Zäsur: es gibt Brüche in den Biografien, gute Freunde kommen nicht aus dem Krieg zurück. Dass in Deutschland eine utopische, nicht mehr mit dem evolutionären Denken verbundene Bewegung so besonders stark ist, kann unter anderem damit erklärt werden. In diesem Feld muss man den Geheimbund der „Gläsernen Kette“ sehen, der sich in einer relativ kurzen Zeit formiert und nicht von Dauer ist.
Die Ideen aus dieser Zeit inspirierten jedoch einen Teil der Avantgarde der 1920er Jahre. Vielleicht ist dies in der Entwicklung von Architekten wie Hugo Häring und Hans Scharoun noch sichtbarer als im späteren Werk von Bruno Taut selbst. Wenn man sich anschaut, welche Ideen Scharoun bis in die 1970er Jahre bearbeitet, dann erkennt man darin diese utopische Periode. Das ist zum einen die Leichtigkeit des Bauwerks und zum anderen eine komplexe, nichtaxiale Ordnung. In der Berliner Philharmonie sieht man diese gebrochenen Perspektiven der „Gläsernen Kette“ noch heute.