Die damals jungen Drehbuchautoren Carl Mayer und Hans Janowitz schreiben ihre traumatischen Erfahrungen in den Schützengräben nieder und verarbeiten sie in einer Geschichte über Angst, Identitätsverlust und den Missbrauch von Macht. Wieso konnte dieser filmische Albtraum so kurz nach dem ersten Weltkrieg diesen enormen Erfolg verbuchen?
Von Moeller: Um seine Bedeutung einzuordnen, muss man verstehen, in welcher Zeit Wienes Film entstanden ist. Der erste Weltkrieg war kaum vorbei, die Wunden und die gesellschaftliche Rückständigkeit noch völlig zu spüren. Gleichzeitig, bei aller Tragik, beschleunigt der erste Weltkrieg aber auch den Weg in die Moderne. Schon ab 1906 zeigt der Kubismus eine neue Konstruktion der Wirklichkeit. Die Avantgarden beeinflussen sich als internationale Bewegung untereinander. Die maßgeblichen Akteure des Expressionismus, Künstlergruppen wie ,Die Brücke' und ,Der Blauer Reiter', hatten ein reiches Formenrepertoire entwickelt und hatten ihre Hochphase eigentlich schon hinter sich.
Dabei darf man nicht vergessen, dass sich der Expressionismus als Protest gegen die damals bestehende Ordnung und somit vielfach gegen das Bürgertum richtete. Die expressionistischen Stilmittel des Films sind ganz deutlich ein Rückgriff auf die Formensprache der Malerei und des Theaters. Dieser Entwicklungsschritt lag in der Luft und wurde von vielen Filmschaffenden sehnlichst antizipiert, um das Kino endlich in die Moderne zu überführen. Insofern ist ,Das Cabinet des Dr. Caligari' ein wunderbares Beispiel, zu dem Kurt Tucholsky ausrief: ,Endlich ein expressionistischer Film!'
Zu dem enormen Erfolg trug aber auch bei, dass sich der Produzent Erich Pommer für den Film eine ungewöhnliche Marketingstrategie hatte einfallen lassen. Kurz vor dem Start des Films im Kino, Anfang 1920, tauchten plötzlich expressionistisch gestaltete Plakate mit dem geheimnisvollen Ausruf ,Du musst Caligari werden!' in Berlin auf. Die Filmpresse feierte den Film als ,Einzug der Kunst in den Film'. Aber auch im Ausland wiederholte sich der Erfolg und bis heute gilt er als Schlüsselfilm jener Zeit.
Der Film gilt als Paradebeispiel des Expressionismus. War das Medium Film prädestiniert für die Darstellung dieser Kunstrichtung?
Von Moeller: Ja, im Grunde nutzt der Regisseur Robert Wiene auf geniale Weise das Medium Film. Er löst sich von der realistischen Darstellung und findet in der expressionistischen Ausdrucksform eine ganz eigene, wahrhaftige Gestaltung eines traumhaften Zustandes. Der Film vermag fantastische Momente viel besser einzufangen, weil er im Studio seine eigene Welt schafft. Alle ästhetischen Qualitäten, die das Szenenbild hergibt, werden eingebaut und schaffen einen eigenen Kosmos. Dabei findet die Wahl der Mittel bei ,Caligari' in der Geschichte immer eine formale Berechtigung: Sie wird eingeführt als Innenansicht einer Figur und gleichzeitig wird der Kernplot des Films, der Psychothriller um Dr. Caligari, zu einer subjektiven Wahnerzählung.
Neben der Gestaltung des Szenenbildes, das immer mit schrägen Perspektiven und gemalten Schatten arbeitet, benutzt der Film darüber hinaus aber auch filmische Stilmittel wie Irisblenden und Überblendungen, um den expressionistischen Charakter zu unterstreichen. Das ist eine ganz ungewöhnliche Geschichte an sich und auch für die Zeit: Die Instrumentalisierung eines Mediums personalisiert in einer Figur. Insofern gehen Ästhetik und Erzählung hier so besonders gut zusammen.