Kafka beschreibt in diesem Brief den bleibenden psychischen Eindruck, den dieses Verhalten bei ihm selbst hinterließ. Können diese psychischen Eindrücke je überwunden werden?
Zimmermann: Was wir aus der Bindungsforschung wissen, ist, dass familiäre Beziehungserfahrungen in viele andere enge Beziehungen weitergetragen werden und man die eigenen Kinder, wenn man in Stress gerät ähnlich behandelt, wie man das selbst erlebt hat. Sebst dann wenn man sich in ruhigen Momenten, ohne Stress, vorgenommen hatte, dies nie zu tun. Eltern sind markante Personen im Lebenslauf, die wichtig für den Selbstwert sind und deren Verständnis oder Orientierungshilfe in Notsituationen auch für viele Erwachsene noch eine Rolle spielen.
Die Forschung zeigt, dass durch korrigierende enge Beziehungserfahrungen wie beispielsweise in Liebesbeziehungen oder durch andere unterstützende Vaterfiguren bei Erwachsenen längsschnittlich Veränderungen in den Bindungsmustern erfolgen können. Bei Personen, die negative Beziehungserfahrungen in der Familie gemacht, aber später eine sichere Bindungsrepräsentation entwickelt haben, stellt man fest, dass sie diese negativen Beziehungserfahrungen erinnern und ihre Auswirkungen auf die eigene Persönlichkeit minimieren oder auch verstehen sowie akzeptieren können. Dies kann auch durch Therapie gefördert werden. Kann man es also überwinden? Ja! Man ist dem nicht ausgeliefert.
Würde Kafka in der heutigen Zeit leben, hätte er vielleicht erkannt, dass er eine sensible Persönlichkeit ist, die dieselbe Daseinsberechtigung hat wie der etwas robustere Charakter des Vaters. Können Briefe Therapiecharakter haben?
Zimmermann: (lacht) Eine nette Frage. Es gibt in der Tat in der Psychologie etwas Ähnliches, nämlich Interventionsforschung zum sogenannten „Expressiven Schreiben“. Man bittet Personen an mehreren Tagen schriftlich zu formulieren, was sie spezifisch aktuell oder früher erlebt haben, was Auslöser dessen war, was ihre Gedanken und Gefühle in diesem Zusammenhang sind und eventuell welchen Bezug diese Gedanken und Gefühle zu Personen in ihrem Umfeld haben. In anderen Schreibinterventionen geht es darum, die Aufmerksamkeit, Gedanken und Gefühle darauf zu lenken, wofür man dankbar sein kann. Dies soll helfen die eigenen Emotionen zu regulieren und Erfahrungen neu zu bewerten. „Reframing“ oder „Re-Appraisal“ nennen Psychologen das. Expressives Schreiben alleine ist aber keine Therapie. Es führt langfristig oft zu mehr Wohlbefinden, aber alleine nicht generell zu bedeutsamen Veränderung von tatsächlichen Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen.
Kafka lässt die Frage nach der persönlichen Schuld hinter sich und begreift den Zusammenprall derart unterschiedlicher Charaktere eher als Verhängnis. Gab es damals bereits Therapiemethoden, die diesem Konflikt hätten entgegenwirken können?
Zimmermann: 1919 gab es als psychologische Therapie nur die Psychoanalyse. Die war zwar noch relativ jung, aber wäre im Prinzip verfügbar gewesen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das alleine ausgereicht hätte, weil Freud nach anderen Auslösern oder Gesichtspunkten gesucht hätte. Mit dem Wissen der Bindungstheorie etwa 50 Jahre später und der daraus folgenden Bindungsforschung wäre Kafkas Beziehungserfahrung als maladaptiv erkannt worden.
Der Brief zeigt aber, dass Kafka eigentlich gar nicht mit seinem Vater abgeschlossen hatte, da er die Erfahrung selbst als Erwachsener immer noch als Verhängnis beschreibt, also noch nicht als Teil seiner Lebenserfahrung akzeptiert hat. Dies zeigt diesen unsicher-verwickelten Charakter der Bindungsbeziehung. Er entkommt dem Konflikt nicht, es gibt für ihn sozusagen keine Lösung. Er bleibt auch noch als Erwachsener eigentlich hilflos in diesem Konflikt emotional verhaftet und hat den „Brief“ deshalb vielleicht auch nicht losgeschickt.
Welche Möglichkeiten haben Betroffene eines solchen Konfliktes heute?
Zimmermann: Wenn die Konflikte tatsächlich zu psychischen Beeinträchtigungen führen, kann man heute die Psychotherapie nutzen, die vielfältig angeboten wird und heute ja Kassenleistung ist. Bindungsorientierte Familientherapie kann die Dynamik solcher Konflikte effizient beeinflussen. Aber die Frage ist, ob Kafkas Erfahrungen mit einem so autoritären und abwertenden Vater von 1919 auch heute noch so auftreten oder als gesellschaftlich akzeptiert betrachtet würden.
Wir leben in einer Zeit, in der die Bindungs- und Autonomiebedürfnisse von Jugendlichen und Kindern gesellschaftlich und durch Bezugspersonen deutlich besser akzeptiert werden und Kinderrechte zumindest formell etabliert sind. Das emotionale Wohl von Kindern wird heute sicherlich mehr geachtet als zu Kafkas Zeiten. Allerdings sind Vater-Sohn-Konflikte oder auch andere Eltern-Kind-Konflikte nicht verschwunden und es ist sicherlich nicht so, dass Eltern heute keine Erwartungen mehr an ihre Kinder hinsichtlich Schule, Leistung und Lebensgestaltung hätten. Dies ist aus Fürsorge und Lebenserfahrung sinnvoll und oftmals verständlich, aber einige Eltern akzeptieren ihre Kinder vor allem dann nicht, wenn diese andere Interessen haben, andere berufliche Perspektiven wollen und den Lebensentwurf der Eltern selbst nicht leben möchten. Das hat sich nicht verändert.