„Es ist tatsächlich ein grundlegend wissenschaftliches Problem, dass wir es noch nicht geschafft haben, eine gute Theorie der Inklusion zu entwickeln“
Grosche kann die Verständnisschwierigkeiten Außenstehender zum Thema Inklusion sehr wohl nachvollziehen und weiß, dass die Umsetzung nicht immer komplett machbar ist. „Das liegt auch an den Theorien von Inklusion, weil die in sich nicht konkret genug ausgearbeitet oder teilweise sogar widersprüchlich sind. Es ist also nicht notwendigerweise ein praktisches oder politisches Problem, sondern auch ein wissenschaftliches Problem. Und da müssen wir vor allem von der theoretischen Forschung sehr viel präziser werden“, gibt er zu bedenken. Sein Wunschziel wäre eine präzise und eindeutige Theorie von Inklusion, für die er aber noch großen Entwicklungsbedarf sieht.
15.000 freie Grundschullehrerstellen in den nächsten zehn Jahren
Allein das oben genannte Beispiel des Gruppenpuzzles lässt viele Lehrerinnen und Lehrer an ihre Grenzen stoßen, und das sieht der Wissenschaftler genauso. Aber er gibt zu bedenken: „Die Alternative, dass wir Förderung für Kinder mit Förderbedarf nur an Förderschulen anbieten, ist nicht notwendigerweise die bessere Alternative. Es ist nicht so, dass Förderschulen durch die Bank weg extrem gut funktioniert und eine ganz tolle Förderung angeboten haben. Und vielleicht lernen Kinder mit Förderbedarf tatsächlich in der Inklusion besser, selbst wenn Inklusion noch nicht besonders gut umgesetzt wird.“
Die Politik hat zwar erkannt, dass Handlungsbedarf da ist, denn allein 15.000 Grundschullehrerinnen und -lehrer, vermeldet Ministerin Gebauer, werden in den nächsten zehn Jahren fehlen. Doch die 500 neu geschaffenen Studienplätze für Sonderpädagogik pro Semester bedeuten Zeit, Lernzeit für die angehenden Jungakademiker, um die wichtigen Aufgaben im Schuldienst übernehmen zu können. „Bis die fertig sind, dauert es viele Jahre“, sagt Grosche. „Aber dann sind die Einstellungschancen exzellent. Alle, die unser Studium der Sonderpädagogik abschließen, werden eine Stelle bekommen.“
Und da kommen wir auch zu den Voraussetzungen, die Studieninteressierte der Sonderpädagogik beachten sollten. „Wir setzen bei unseren Studierenden eine sehr große soziale Motivation und Verantwortung voraus. Aber aufbauend auf diesen hohen sozialen Motiven ist unser Studiengang ein sehr wissenschaftlich orientiertes Studium, auch mit größeren Anteilen an empirischer Forschung und Diagnostik, für die man viele forschungsmethodische Kompetenzen benötigt. Das ist, glaube ich, für viele Studierende eine große Überraschung.“
Unterschiedliche Systemlogik von Uni und Schule
Die Zusammenarbeit mit vier Grundschulen im Bergischen Land läuft gut, eine weitere Kooperation mit einer Förderschule bahnt sich an. Eine entscheidende Schwierigkeit sieht der Wissenschaftler in der unterschiedlichen Systemlogik von Universität und Schule, die den Handlungsspielraum einengt. „Wir starten gerade ein Projekt, eine Kurzzeitförderung in der Rechtschreibung, die wir an ca. 10 Schulen umsetzen. Die Förderung dauert sieben Wochen. Viele Schulen machen gerne mit, weil die zusätzliche Förderung durch unsere Studierenden übernommen wird“, erzählt er. Aber gleichzeitig stellt er die Frage der Nachhaltigkeit, wenn die Studierenden die Schulen nach der Förderung wieder verlassen.
Attraktivität des Lehrerberufes steigern
Grosche weiß, wie anstrengend der Beruf des Sonderpädagogen ist. „Man braucht eine extrem hohe soziale Motivation, hinzu kommen intellektuell-forschende und auch Führungs- und Leitungsmotivation, und man muss konventionelle Bürotätigkeiten wie formale Antragsverfahren und Dokumentationen aushalten und gewissenhaft durchführen können“, sagt er abschließend. „Man sollte seinen Beruf als lebenslanges Lernen und das ständige Erforschung verstehen, ob das, was man den Schülerinnen und Schülern anbietet, auch wirklich funktioniert.“
„Auch Lehrer waren einst Schüler“, sagt der Schweizer Theologe Walter Ludin und drückt damit den Vorteil aller Lehramtsstudierender aus, die einen Beruf anstreben, den sie selber jahrelang beobachten konnten.